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Unsere Leitlinien...

Marie Juchacz (1879-1956)
Sozialreformerin
Frauenrechtlerin
Gründerin der AWO
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AWO Positionspapier zu Armut und Teuerungswelle

In immer kürzeren Abständen folgen schwerwiegende Krisen aufeinander: Klimawandel, Corona-Pandemie, der Angriffskrieg auf die Ukraine und die „Teuerungswelle“. Diese Krisen kommen direkt bei den Menschen an und haben Einfluss auf ihr Leben. Das politische Versagen der letzten Jahre wird immer deutlicher und stellen das politische System und die Gesellschaft vor immer größer werdende Herausforderungen. Das kapitalistische System ist in Krise bzw. die Krise ist im System.


Die AWO sieht den Mensch im Mittelpunkt und blickt auf eine lange Tradition im Kampf gegen Armut zurück. Mit dem Ansatz „Hilfe zur Selbsthilfe“, hilft sie Menschen schwierige Lebenssituationen zu überwinden. Deutschland ist ein reiches Land und „leistet“ sich dennoch, dass ein Teil seiner Bevölkerung in Armut lebt. Armut darf nicht mehr toleriert werden bzw. systemisch „gewollt“ sein. Es gibt genug Wohlstand für Alle. Es braucht eine grundlegende Umverteilung des Reichtums, eine Demokratisierung dieses Reichtums und eine Nutzbarmachung für gesellschaftliche Zwecke. Der andauernde Krisenmodus stellt die Gesellschaft, den Zusammenhalt und unsere Demokratie vor große Herausforderungen. Die Verantwortung und Probleme dürfen nicht auf das Individuum abgewälzt werden, hier bedarf es Regelungen durch den Staat.


Nun kommt es darauf an, dass schnell gehandelt wird, um Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Sozialstaats und die Solidarität der Gesellschaft für die schwächeren Mitglieder zurückzugewinnen und mit gezielten Maßnahmen auf die Krisen zu reagieren. Im Rahmen eines subsidiären Miteinanders ist dieses nicht alleine Aufgabe der staatlichen Strukturen, sondern es muss gemeinsam mit den Akteuren der Zivilgesellschaft an Lösungen gearbeitet werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Bündnis „Niedersachsen – gemeinsam durch die Energiekrise“.


Mit Blick auf die aktuelle Teuerungswelle sind wir gegen kleinteilige und fehlgeleitete Maßnahmen und fordern:

 

Strom/Gas/Miete
Es ist nicht akzeptabel, wenn Menschen im Winter in ihren eigenen Wohnungen frieren müssen. Ein Moratorium für Strom- und Gas-Sperren wegen nicht bezahlter Rechnungen ist dringend notwendig. Gleiches muss auch für Mieten und Nebenkostenabschläge gelten. Die Menschen dürfen nicht noch mehr unter finanziellen und existenziellen Druck geraten. Eine Deckelung der Energiepreise, um die Grundversorgung privater Haushalte sicherzustellen, ist erstrebenswert.


Kindergrundsicherung
Die Bundesregierung hat sich auf die Einführung der Kindergrundsicherung verständigt und diese muss jetzt eingeführt werden. Es muss sichergestellt sein, dass jedes Kind frei von materiellen Zwängen aufwachsen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann.


Selbstbestimmtes Leben
Die Teuerungswelle stellt viele Menschen aktuell vor große Herausforderungen, ihr Leben zu bewältigen. Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs werden immer teurer. Die Krise wird für Haushalte mit kleinen und mittleren Einkommen zu einer massiven Belastung und reicht somit weit in die Mitte der Gesellschaft. Staatliches Handeln muss sich deshalb zielgerichtet mit diesen Personengruppen befassen und darf nicht nach dem Gießkannenprinzip die staatlichen Ressourcen verteilen. Schnelle und niedrigschwellige Maßnahmen sind erforderlich. Dazu gehört eine realistische Einschätzung des Bedarfs an ALG II mit einer pauschalen Erhöhung der Regelsätze als Vorstufe zum Bürger*innengeld. Auszubildende, Studierende und Bezieher*innen von kleinen Renten und Pensionen sind zielgerichtet zu unterstützen.

 

Kinder-, Jugend- und Familienhilfe
Die Armutsgefährdung hat bereits während der Corona-Pandemie stark zugenommen. Oftmals sind Personen besonders stark betroffen, die bereits zuvor belastet waren. Außerdem rutschen weitere Haushalte unter die Armutsgefährdungsgrenze. Unterjährige Anhebungen der Grundsicherung, des Wohngelds und des Kinderzuschlags sind dringend geboten, um schnell und zielgerichtet bei armutsgefährdeten Familien anzukommen. Um neu betroffene Menschen über ihre Möglichkeiten aufzuklären, sind zudem begleitende Informationskampagnen wichtig. Darüber hinaus muss die angekündigte Kindergrundsicherung schnellstmöglich umgesetzt werden.


Nutzungseinschränkungen von öffentlichen Orten und Angeboten während der pandemiebedingten Lockdowns haben die soziale und kulturelle Teilhabe insbesondere von armutsgefährdeten Kindern und Jugendlichen stark eingeschränkt. Energiebedingte Schließungen von öffentlichen Schwimmbädern und ähnlichen Orten drohen sich nun erneut besonders stark auf armutsgefährdete Kinder und Jugendliche auszuwirken. Um dem entgegenzuwirken, müssen Angebote wie die offene Kinder- und Jugendarbeit als niedrigschwellige Anlaufpunkte offengehalten und finanziell gestärkt werden. Gleiches gilt für Einrichtungen der Familien- und ganztagsschulischen Bildung sowie Familienzentren usw. – damit Kinder nicht unter Einschränkungen leiden müssen und Familien Kontakte und Unterstützungsnetzwerke weiterhin offenstehen. Grundsätzlich müssen Freizeitangebote, wie Sportvereine und Musikschulen, armutsgefährdeten Kindern und Jugendlichen kostenlos zur Verfügung stehen. Darüber hinaus muss ein kostenfreies Mittagessen in allen Bildungs- und Betreuungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche angeboten werden. Damit trotz steigender Energiepreise armutsgefährdete Familien und junge Menschen weiterhin mobil sind, sollte das 9-Euro-Ticket fortgesetzt bzw. alternativ ein deutschlandweit gültiges 365-Euro-Jahresticket eingeführt werden.


Pflege
Ebenso wie die Gesamtwirtschaft sehen sich Pflegeeinrichtungen extremen Teuerungen gegenüber. Die Pflege kann sich davon nicht abkoppeln. Betroffen sind insbesondere die Bereiche med. Sachbedarf, Lebensmittel und Energie. Im Hinblick darauf, dass der Krisenzustand noch weiter anhalten wird, ist davon auszugehen, dass sich die Steigerungen ebenfalls bei der Tarifentwicklung zeigen werden. Ohne entsprechende Gegenmaßnahmen der Politik werden sich Pflege-Dienstleistungen für die Betroffenen stark verteuern. Die nun vielerorts in Erwägung gezogenen Einsparmaßnahmen insbesondere im Bereich Energie sind im Pflegebereich nicht ohne Weiteres umsetzbar. Eine gesundheitliche Gefährdung der Versorgten muss ausgeschlossen werden. Um weiterhin allen Pflegebedürftigen zu ermöglichen die benötigten Leistungen in Anspruch zu nehmen, wird als Soforthilfe ein staatlich finanzierter Zuschlag auf die Leistungs-Pauschalen der Pflegeversicherung gefordert. Des Weiteren braucht es einen Systemwandel. Pflege darf nicht mehr kommerzialisiert werden. Es muss eine Abkehr von der Privatisierung mit dem Ziel der Gewinnmaximierung in diesem Bereich erfolgen. Zudem ist dringend eine Umstrukturierung der Pflegeversicherung erforderlich. Die Pflegebedürftigen dürfen nicht das alleinige Risiko für steigende Kosten tragen. Es muss eine Vollversicherung für die pflegerische Versorgung analog zu anderen Versicherungen mit Steuerzuschüssen durch den Bund eingeführt werden sowie im stationären Bereich eine echte Deckelung der gesamten Eigenanteile erfolgen.


Sozialpsychiatrie/ Behindertenhilfe/ Eingliederung

Wir fordern für alle Menschen mit Behinderungen auch bei den zukünftigen Herausforderungen und gesellschaftlichen Lebenskrisensituationen stets die Belange von Menschen mit Behinderungen mit zu berücksichtigen. Das bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen überall die gleiche Unterstützung erhalten, wie in ihrem privaten Wohnraum und Umfeld, als auch in den Einrichtungen, wo sie Unterstützung erhalten.


In einem bevorstehenden Winter mit drohenden Energieversorgungsengpässen ist es unverzichtbar, dass alle Menschen mit Behinderungen weiterhin die gleiche Versorgung und ihr Recht auf Soziale Teilhabe, Teilhabe an Bildung und Teilhabe am Arbeitsleben haben. So fordern wir konkret die Sicherstellung der Versorgung auch in der Eingliederungshilfe in besonderen Wohnformen mit ausreichend Gas, ebenso in den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen oder anderer Leistungsangebote – damit Menschen mit Behinderungen keine zusätzlichen Sorgen, Ängste in einer Lebenskrisensituation erleben müssen. Das heißt, dass der Staat und die Politik bei der Verteilung der Energieversorgung gerecht darauf achten müssen, dass neben den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen ebenfalls die Einrichtungen in der Eingliederungshilfe versorgt werden. In der jüngsten Vergangenheit wurden diese Einrichtungen gelegentlich von Krisenstäben erst nachgerückt erwähnt oder ihnen Beachtung geschenkt. Gleichstellung, Selbstbestimmung und Teilhabe darf nicht nur aus der Gesellschaft vorgelebt werden, sondern der Staat und die Politik muss hier ein Vorbild sein. Hierbei ist die Wertschätzung für Menschen mit Behinderungen bedeutsam.


Beratung und Unterstützung
Die Krisen führen zu deutlich gestiegenen Beratungs- und Unterstützungsbedarfen. Viele Menschen machen sich große Sorgen, wie sie in Zukunft ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen und sind mit der Vielzahl an Herausforderungen zunehmend überfordert. Die sich immer mehr verfestigende Armut, die sich durch die aktuelle Preissteigerungswelle in die Mittelschicht ausdehnt, macht einen Ausbau der Hilfesysteme erforderlich. Schuldnerberatung, psychosoziale Begleitung, Lebenshilfe und niedrigschwellige Sozialarbeit bekommen in der Krise eine zunehmende Bedeutung. Menschen müssen zur eigenständigen Lebensführung und Teilhabe befähigt und dabei unterstützt werden.


Ehrenamt
Neben der Unterstützung von Privathaushalten muss auch der weitere Betrieb von ehrenamtlichen Begegnungsangeboten sichergestellt werden. Diese Angebote werden überwiegend durch Vereine oder Organisationen erbracht, die häufig finanziell schlecht aufgestellt und auf Fördergelder angewiesen sind. Um eine Vereinsamung der Bürger*innen, die eben solche Angebote wahrnehmen und aufsuchen, zu vermeiden und ihnen weiterhin die Teilnahme am gesellschaftlichen Geschehen zu ermöglichen, muss es für diese Institutionen Sonderzahlungen (für Energiekosten) oder Anpassungen in den Fördermitteln geben.


Armut

Armut hat immer auch ein Abbild in Reichtum. Beides steigt und verfestigt sich. Immer mehr Menschen haben immer weniger und wenige Menschen immer mehr. Diese gesellschaftlichen Verwerfungen gefährden unsere Demokratie nachhaltig und machen eine grundlegende Umverteilung des Reichtums erforderlich.


Die Teilhabe der Menschen an allen Bereichen des Lebens ist eine Aufgabe der Daseinsvorsorge und diese müssen in die Lage versetzt werden, ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten. Staatliches Handeln muss dabei zielgerichtet die Voraussetzungen für die Überwindung der Armut schaffen. Wir begrüßen die aktuelle Diskussion um Härtefallfonds und halten diese für ein geeignetes Instrument – sie sind jedoch nur für den Übergang geeignet. Unser Ziel ist es, dass die Menschen ein selbstbestimmtes und eigenständiges Leben führen können und dafür auch die entsprechenden Voraussetzungen durch existenzsichernde Löhne, gute Renten und eine Absicherung der Lebensrisiken haben.